Friedensnobelpreis 1971: Willy Brandt

Friedensnobelpreis 1971: Willy Brandt
Friedensnobelpreis 1971: Willy Brandt
 
Der deutsche Bundeskanzler erhielt den Friedensnobelpreis für seine Politik der Verständigung mit den Staaten Osteuropas.
 
 
Willy Brandt (eigentlich: Herbert Frahm), * Lübeck 18. 12. 1913, ✝ Unkel (Bonn) 8. 10. 1992; 1933-45 im Exil in Norwegen und Schweden, 1957-66 Regierender Bürgermeister von Westberlin, 1964-87 Vorsitzender der SPD, 1966-69 Außenminister, 1969-74 Bundeskanzler, 1979-83 Mitglied des Europaparlaments, bis 1992 Vorsitz der Sozialistischen Internationale.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Willy Brandt war nach Gustav Stresemann (1926), Ludwig Quidde (1927) und Carl von Ossietzky (1935) der vierte Deutsche, der den Friedensnobelpreis erhielt. Er war aber der erste Deutsche, dessen politisches Wirken nach dem Ende des von Hitlerdeutschland verschuldeten Zweiten Weltkriegs auf diese Weise gewürdigt wurde. Insofern war die Verleihung des Friedensnobelpreises von 1971 auch ein Signal dafür, dass Deutschland wieder als ein verlässliches und respektiertes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft angesehen wurde.
 
Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine Politik der Aussöhnung mit den westlichen Nachbarn Europas und der USA betrieben. Mit dem Namen Willy Brandt ist untrennbar eine Politik des Ausgleichs und der Verständigung mit den Staaten Osteuropas verbunden.
 
 Reformer der Ostpolitik
 
In seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von Westberlin (1957-66) hatte Brandt täglich die Auswirkungen des Kalten Kriegs unmittelbar spüren können. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 verschärfte den Konflikt zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland ebenso wie zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion. 1966 wurde Brandt, inzwischen auch Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Außenminister in einer Koalitionsregierung mit der Christlich-Demokratischen Union (CDU). In Bezug auf den außenpolitischen Kurs der Koalition ergaben sich bald schwere Differenzen. Im Gegensatz zu Brandt war Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) zu keinen Zugeständnissen gegenüber der DDR bereit, pflegte sie nicht einmal beim Namen zu nennen, sondern immer nur als das »Phänomen« zu bezeichnen. Aufgrund seiner Erfahrungen als Bürgermeister einer geteilten Stadt glaubte Brandt dagegen, dass die deutsch-deutschen Beziehungen nur durch gegenseitige Annäherung verbessert werden könnten.
 
Das abrupte Ende des »Prager Frühlings« — sowjetische Panzer besetzten im August 1968 die der kommunistischen Führung in Moskau zu fortschrittlich gewordene Tschechoslowakei — schien die Skeptiker zu bestätigen.
 
Auf der anderen Seite wurde in Westeuropa der Ruf nach Reformen auch in der Ostpolitik lauter. Unterstützung fanden diese Kräfte in der so genannten »68er-Bewegung«, deren radikalen Forderungen sich die Regierenden nicht völlig verschließen konnten. In diesem allgemeinen Klima des Aufbruchs und des Wandels wurde Willy Brandt 1969 an der Spitze einer sozialliberalen Regierung aus SPD und FDP (Freie Demokratische Partei) neuer Bundeskanzler.
 
Angetreten mit der Ankündigung, sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik umfangreiche Reformen durchzuführen, entwarf Brandt für die Ostpolitik die neue Formel »Wandel durch Annäherung«. Im März 1970 kam es zu einem historischen Treffen zwischen Bundeskanzler Brandt und dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph in Erfurt. Zwei Monate später traf man sich erneut, diesmal in Kassel. Am 3. September 1971 unterzeichneten Frankreich, England, die USA und die Sowjetunion das Viermächteabkommen, das den Status von Berlin neu regelte und vor allem die Besuchsmöglichkeiten für DDR-Bürger in der Bundesrepublik und umgekehrt erleichterte.
 
 Wandel durch Annäherung, aber mit Widerständen
 
Die Deutschen in Ost und West kamen sich allmählich näher — doch der Schlüssel zur Entspannungspolitik lag, wie Brandt erkannt hatte, in Warschau und in Moskau. Streitpunkt im Verhältnis zu Polen war bis dahin die Forderung Warschaus nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als der Westgrenze Polens gewesen. Und an der Supermacht UdSSR kam man ohnehin nicht vorbei, wollte man etwas im Verhältnis zwischen West und Ost ändern. Brandts Bemühungen um einen »Wandel durch Annäherung« blieben nicht ohne Erfolg. Im August 1970 wurde der Moskauer Vertrag unterzeichnet. Beide Seiten betonten darin ihren Willen, in den gegenseitigen Beziehungen auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Damit waren auch die bestehenden Grenzen zwischen Deutschland und Polen sowie zwischen der Bundesrepublik und der DDR festgeschrieben. Gleichwohl bekräftigte die deutsche Regierung ihr Bekenntnis zur deutschen Einheit. Im Dezember 1970 wurde in Warschau der deutsch-polnische Vertrag abgeschlossen, in dem Deutschland auch den Polen die Einhaltung der Oder-Neiße-Grenze garantierte. Weltweit Aufmerksamkeit erregte der Kniefall Willy Brandts vor dem Mahnmal der Opfer des Warschauer Gettos.
 
Von der politischen Opposition in Deutschland und von den Vertriebenenverbänden erntete Willy Brandt für seine Ostpolitik zum Teil heftige Kritik. Man sprach von einer Kapitulation und vom Ausverkauf deutscher Interessen. Als Brandt am 10. Dezember 1971 in Oslo den Friedensnobelpreis in Empfang nahm, waren weder der Moskauer noch der Warschauer Vertrag vom deutschen Parlament ratifiziert. Dies geschah erst im Mai 1972. In der Zwischenzeit hatte Brandt im Bundestag ein Misstrauensvotum der Oppositionsfraktionen zu überstehen gehabt. Das internationale Echo, etwa in den USA und in Israel, war positiver. Das Nobelpreiskomitee hob in seiner Begründung für die Preisverleihung an Brandt hervor, der deutsche Bundeskanzler habe konkrete Initiativen ergriffen, die zu einer Entspannung zwischen Ost und West geführt hätten. Brandt selbst betonte in seiner Osloer Dankesrede, eine Politik für den Frieden sei die wahre Realpolitik der Epoche: »Wenn in der Bilanz meiner Wirksamkeit stehen würde, ich hätte einem neuen Realitätssinn in Deutschland den Weg öffnen helfen, dann hätte sich eine große Hoffung meines Lebens erfüllt.« Und in einer Feierstunde des Bundestags sagte Brandt, er nehme den Preis an in Verbundenheit mit allen, »die sich mit der ihnen gegebenen Kraft bemühen, die Welt von Kriegen zu befreien und ein Europa des Friedens zu organisieren.«
 
1972 schloss die Regierung Brandt mit der Führung der DDR einen Grundlagenvertrag, der die gegenseitigen Beziehungen neu regelte. 1973 wurden beide Staaten Mitglieder der Vereinten Nationen (UNO). Brandt konnte 1989 noch den Mauerfall miterleben und 1990 die deutsche Einheit.
 
H. Sonnabend

Universal-Lexikon. 2012.

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